Flüssigkeitsbild
Das Bild
Im Flüssigkeitsbild werden dynamische Vorgänge durch hydraulisch äquivalente Prozesse veranschaulicht. Das hier vorgeschlagene Bild enthält alle Zusammenhänge, die für das Verständnis eines systemdynamischen Modells relevant sind.
Im Flüssigkeitsbild wird ein homogene System (Körper, Schwungrad, Kondensator oder Wärmespeicher) zu einem Gefäss, das in einem riesigen See steht. Die Gefässe verhalten sich kapazitiv, die Verbindungen zwischen den Gefässen gehorchen resistiven oder induktiven Gesetzen. Der See steht für die Erde, mit der jedes System unbeschränkt Flüssigkeit (Impuls, Drehimpuls, elektrische Ladung oder Entropie) austauschen kann. Denkt man sich die Dichte der Flüssigkeit und die Gravitationsfeldstärke gleich eins, wird die Grundfläche der Gefässe zur Kapaztität (Masse, Massenträgheitsmoment, Kapazität oder Entropiekapazität) und die Füllhöhe zum Potenzial (Geschwindigkeit, Winkelgeschwindigkeit, elektrisches Potzenzial oder Temperatur ).
Das Flüssigkeitsbild eignet sich bestens zur Darstellung von Vorgängen aus der Translations- und der Rotationsmechanik. In der Elektrizitätslehre überträgt man nur den halben Kondensator als echten Speicher ins Flüssigkeitsbild. Die Entropieproduktion setzt der Anwendung des Flüssigkeitsbildes in der Thermodynamik gewisse Grenzen. Beschränkt man sich dabei auf reversible Prozesse wie ideale Wärmekraftmaschinen, Wärmepumpen oder homogene Wärmespeicher, stellt das Flüssigkeitsbild die Prozessleistung, den zugeordneten Energiestromes oder die Wärmekapazität korrekt dar. Bei total irreversiblen Prozessen könnte man auch die Energie als Flüssigkeit nehmen und damit thermischen RC-Gliedern untersuchen. Nur geht dann ein beträchtlicher Teil der Aussagekraft des Flüssigkeitsbildes verloren.
Die einzelnen Grössen werden wie folgt ins Flüssigkeitsbild übertragen:
Flüssigkeitsbild | Translation | Rotation | Elektrizität | Wärme |
---|---|---|---|---|
Flüssigkeitsmenge | Impuls | Drehimpuls | Ladung | Entropie |
Gefässquerschnitt | Masse | Massenträgheitsmoment | elektrische Kapazität | Entropiekapazität |
Füllhöhe | Geschwindigkeit | Winkelgeschwindigkeit | elektrisches Potenzial | absolute Temperatur |
Fallhöhe | Geschwindigkeitsdifferenz | Winkelgeschwindigkeitsdifferenz | Spannung | Temperaturdifferenz |
Translation
Der Auflaufstoss eines Güterwagens gegen einen zweiten eignet sich bestens, um die Aussagekraft des Flüssigkeitsbildes zu illustrieren. Die beiden Güterwagen werden als zwei zylindrische Gefässe mit der Masse als zugehörige Grundfläche und der Geschwindigkeit als Füllhöhe dargestellt. Anfänglich ist das eine Gefäss gefüllt und das andere leer. Durch die Wirkung der Puffer fliesst der Impuls (Flüssigkeit) vom auflaufenden Wagen (Hammerwagen als Gefäss 1) in den ruhenden über (Ambosswagen als Gefäss 2). Der "hinunterfallende" Impulsstrom setzt in den Puffern Energie frei, bis sich die Geschwindigkeiten (Füllhöhen) angeglichen haben. Am Ende dieser ersten Phase sind die Puffer voll eingefahren. In der zweiten Phase pumpen die Puffer zusätzlich Impuls unter Energieabgabe vom Hammer- in den Ambosswagen. Im Flüssigkeitsbild erscheint die Beschleunigung als Steig- oder Sinkgeschwindigkeit des Flüssigkeitsspiegels.
Aus dem Flüssigkeitsbild können folgende Informationen mehr oder weniger direkt entnommen werden:
- Impulsinhalt = Masse*Geschwindigkeit (Grundfläche mal Höhe)
- Impulsübertrag = Masse*Geschwindigkeitsänderung (Grundfläche mal Höhenänderung)
- mittlere Impulsstromstärke = Impulsübertrag dividiert mit der benötigten Zeit
- Impulsänderungsrate = Summe über alle Impulsströme (Bilanzgleichung)
- Beschleunigung = Impulsänderungsrate durch Masse (Geschwindigkeit des Spiegels = Volumenänderungsrate durch Grundfläche)
- Prozessleistung = Impulsstromstärke*aktuelle Geschwindigkeitsdifferenz (Stromstärke mal Fallhöhe)
- zugeordneter Energiestrom = Impulsstromstärke mal aktuelle Geschwindigkeit (Stromstärke mal Höhe über Bezugsniveau)
- Energieumsatz = Impulsübertrag*mittlere Geschwindigkeitsdifferenz (Phase I: Impuls fliesst hinunter; Phase II: Impuls fliesst hinauf)
- kinetische Energie = Impulsinhalt*halbe Geschwindigkeit (die kinetische Energie wird freigesetzt, falls der gesamte Impuls an die Erde abfliesst)
Die gemeinsame Geschwindigkeit der Wagen am Schluss von Phase I nennt man Geschwindigkeit des Massenmittelpunktes beider Wagen. Phase I heisst auch inelastischer Stoss. Indem man die vom Impuls in der Phase II von den Puffern aufgenommene Energie mit der in Phase I freigesetzten vergleicht, erhält man ein Mass für die Elastizität des Stosses (Stosszahl).
Rotation
Das Analogon zum Auflaufstoss bilden zwei Schwungräder, die über eine Rutschkupplung miteinander verbunden sind. Die beiden Schwungräder werden als zwei zylindrische Gefässe mit dem Massenträgheitsmoment als Grundfläche und der Winkelgeschwindigkeit als Füllhöhe dargestellt. Drehen sich die Räder unterschiedlich schnell, weisen die Gefässe unterschiedliche Füllhöhen auf. Durch die Wirkung der Rutschkupplung fliesst der Drehimpuls (Flüssigkeit) vom sich schneller drehende in das mit kleinerer Winkelgschwindigkeit rotierende Rad. Der "hinunterfallende" Drehimpulsstrom setzt in der Rutschkupplung Energie frei, bis sich die Winkelgeschwindigkeiten (Füllhöhen) angeglichen haben. Weist die Kupplung eine gewisse Elastizität auf, pumpt sie zusätzlich Drehimpuls vom nun langsamer gewordenen in das zwischenzeitlich schneller drehende Rad. Im Flüssigkeitsbild erscheint die Winkelbeschleunigung als Steig- oder Sinkgeschwindigkeit des Flüssigkeitsspiegels.
Aus dem Flüssigkeitsbild können folgende Informationen mehr oder weniger direkt entnommen werden:
- Drehimpulsinhalt = Massenträgheitsmoment*Winkelgeschwindigkeit (Grundfläche mal Höhe)
- Drehimpulsübertrag = Massenträgheitsmoment*Winkelgeschwindigkeitsänderung (Grundfläche mal Höhenänderung)
- mittlere Drehimpulsstromstärke = Drehimpulsübertrag dividiert mit der benötigten Zeit
- Drehimpulsänderungsrate = Summe über alle Drehimpulsströme (Bilanzgleichung)
- Winkelbeschleunigung = Drehimpulsänderungsrate durch Massenträgheitsmoment (Geschwindigkeit des Spiegels = Volumenänderungsrate durch Grundfläche)
- Prozessleistung = Drehimpulsstromstärke*aktuelle Winkelgeschwindigkeitsdifferenz (Stromstärke mal Fallhöhe)
- zugeordneter Energiestrom = Drehimpulsstromstärke mal aktuelle Winkelgeschwindigkeit (Stromstärke mal Höhe über Bezugsniveau)
- Energieumsatz = Drehimpulsübertrag*mittlere Winkelgeschwindigkeitsdifferenz
- Rotationsenergie = Drehimpulsinhalt*halbe Winkelgeschwindigkeit (die Rotationsenergie wird freigesetzt, falls der gesamte Drehimpuls an die Erde abfliesst)
In der Rotationsmechanik eignet sich das Flüssigkeitsbild zur Darstellung von Prozessen längs einer Achse (Torsion der drehimpulsführenden Bauteile) oder zur Veranschaulichung von Ausgleichsvorgängen in der Ebene (Biegung der drehimpulsführenden Bauteile). Das Massenträgheitsmoment der einzelnen Körper kann konstant bleiben, oder sich wie bei der Pirouette mit der Zeit ändern.
Elektrizität
Kondensatoren, die parallel miteinander verbunden sind, lassen sich gut im Flüssigkeitsbild darstellen. Dazu denkt man sich die eine Seite der Schaltung geerdet. Die nicht geerdeten Teile der Kondensatoren erscheinen dann als zylinderförmige Gefässe mit der Kapazität als Grundfläche und der Spannung als Füllhöhe. Widerstände behindern die Ausgleichsvorgänge wie bei einer Rohrströmung und eine Induktivität macht sich als Trägheit der Flüssigkeit bemerkbar. Die Energie der Kondensatoren erscheint wie die kinetische Energie (Translation) oder die Rotationsenegie (Rotation) als potentielle Energie der Flüssigkeit (Flüssigkeitsmenge mal mittlere Förderhöhe). Daneben gilt die ziemlich gebräuchliche hydroelektrische Analogie.
Wärme
Thermische Prozesse, wie sie in Wärmekraftmaschinen oder Wärmepumpen ablaufen, können mit fallendem oder zu pumpendem Wasser verglichen werden. Die (schwere) Masse des Wassers verkörpert dann die Entropie und die Fall- oder Pumphöhe (genauer: Differenz des Gravitationspotenzials) entspricht der Temperaturdifferenz. Die in einem reversiblen Prozess umgesetzte Leistung ist folglich gleich Entropiestromstärke mal Temperaturdifferenz und der von einem Entropiestrom mitgeführte zugeordneter Energiestrom ist gleich absolute Temperatur mal Entropiestromstärke.
Bei irreversiblen Prozessen versagt dieses Bild, weil wir uns eine Flüssigkeit, die sich beim Hinunterfallen wie die Entropie vermehrt, nicht vorstellen können. Thermische Ausgleichsvorgänge mit der Entropie als Primärgrösse lassen sich deshalb nur im Flüssigkeitsbild darstellen, wenn sie reversibel geführt werden. Zudem ist die Entropiekapazität der meisten Körper temperaturabhängig, womit die Gefässe im Flüssigkeitsbild nicht mehr zylindrisch sind. Wann und wie das Flüssigkeitsbild von Nutzen ist, wird im Artikel Flüssigkeitsbild der Wärme gezeigt.
Erklärt man die Energie zur Flüssigkeit, können thermische RC-Glieder gut ins Flüssigkeitsbild übertragen werden. Die Wärmekapazität, die für viele Stoffe bei Zimmertemperatur nahezu konstant ist, bildet dann die Grundfläche und die Temperatur die Füllhöhe. Alle weiteren Zusammenhänge zwischen der Primärmenge und der Energie entfallen, weil nun die Energie statt der Entropie als bilanzierfähige Grösse auftritt.